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Situation Syrien - Die HTS-Blitzoffensive 2024
Beispiel einer geo-referenzierten Auswertung
Innerhalb von 12 Tagen hat sich die Lage in Syrien vollständig geändert. Vom
russisch gestützten Assad- Regime zu einer heute noch nicht abschließend
bewertbaren Regierung unter der international als Terrororganisation gelisteten
islamistische Miliz Hajat Tahrir al-Scham (HTS) – die aus der al-Qaida
angelehnten al-Nusra-Front im Jahr 2017 hervorging. Ihr Anführer, Abu Muhammad
al-Dschaulani, der Chef der HTS, wird international noch gesucht und auf ihn ist
ein Kopfgeld von 10 Millionen Dollar von den USA ausgesetzt. Zeitgleich haben
fast alle Akteure in Syrien zu ihm Kontakte aufgebaut, um ihre Interessen zu
vertreten und die neue Regierung auf eine ihnen genehme Politik eizuschwören.
Dies gilt besonders für:
- Die Türkei, die die HTS wesentlich unterstützt hat und ihre Entstehung
im türkisch kontrollierten Teil Syriens wohlwollend gefördert hat. Die
Interessen der Türkei sind neben territorialen Interessen die Niederhaltung
des kurdisch dominierten teilautonomen Nord-Syrien, welches türkische
Truppen seit Jahren teilweise besetzt haben.
- Die USA, die an der jordanischen Grenze zwei Stützpunkte (At Tanf und
Zaqaf), als auch im kurdisch kontrollierten Ölgebieten drei weitere
Stützpunkte unterhält. Sie ist derzeitig auf die Ölförderung orientiert und
unterstützt die YPF – eine kurdische Miliz, die sich im Kampf gegen den
Islamischen Staat ausgezeichnet hat, die jedoch laut türkischer
Interpretation ein Ableger der kurdischen PKK ist.
- Israel möchte seine territoriale Kontrolle in Syrien ausbauen um seinem Ziel „Erez
Israel“ näherzukommen.
- Russland ist bestrebt seine beiden Stützpunkte in Syrien zu
erhalten, da Tartus für die Flotte der einzige Stützpunkt im Mittelmeer, als
auch die in Hmeimin, bei Latarkia, befindliche Luftwaffenbasis als wichtiger
Brückenkopf für Transporte nach Afrika ist. Russland hatte im September 2015
auf Einladung der syrischen Regierung in den Krieg gegen ISIS eingegriffen,
was nach jahrelangen unentschiedenen Kämpfen ausschlaggebend, auch weil sie
den illegalen Erdöltransport von ISIS in die Türkei durch Luftangriffe
stoppte, somit die Einnahmen des Islamischen Staates erheblich versiegen
ließen.
- Die arabischen sunnitischen Monarchien, denen der Irak und Syrien seit
dem Sturz der jeweiligen Monarchen widerstrebte, in Syrien schon am 24. Juli
1920 durch direkte Intervention der französischen Mandatsmacht, im Irak am
14. Juli 1958. Beide Länder standen sich nach der Erlangung der
Unabhängigkeit durch die Baath-Partei nahe, die speziell unter dem Einfluss
der ägyptischen Revolution gegen König Faruk am 23. Juli 1952 und der
Regierung Gamal Abdel Nasser, sich zu einer arabisch-nationalen und
säkularen Partei entwickelte. Trotz der Spaltung der Baath-Partei zwischen
beiden Staaten und inneren Machtkämpfen in den beiden Parteiflügeln blieb
die politische Orientierung erhalten. Die anderen Monarchien der Region
fühlten sich durch diese Entwicklung bedroht und intervenierten direkt und
indirekt finanziell und militärisch, um die in ihrer Einschätzung eher
sunnitisch beeinflussten Regierung zu stürzen. So sind Zahlungen aus den
arabischen Monarchien an islamistische Organisationen klar belegt.
- Letztlich sei noch der Islamische Staat genannt, der in den
Gouvernements Hama, Ar-Raqqah, Deir Ez-Zor und Homs über Widerstandsinseln
verfügt.
Diese unterschiedlichen Interessenlagen der Akteure an der Machtübernahme des
HTS in Syrien führen derzeitig zu einem noch nicht klaren Bild, wie sich die
neue syrische Regierung in diesem Kraftfeldern entwickeln wird. Es stellt sich
jedoch schon jetzt klar heraus, dass alle nicht-sunnitischen
Bevölkerungsgruppen, wie Alawiten, Jeziden, Christen und andere Gruppen,
vorwiegend im westlichen Teil des Landes angesiedelt, als Verlierer der
Entwicklung anzusehen sind. Werden diese unsere neuen syrischen Asylsuchenden?
Auch die Lage der Kurden ist nicht abschließend zu bewerten, denn die bisherige
teilweise Unterstützung der USA kann sich nach dem Amtsantritt von Trump ändern,
und die türkische Politik und dessen Militär ist näher und bereits aktiv.
Doch nun zur Interpretation der Karten.
Karte 1 – Bevölkerungsverteilung in Syrien im Jahre
2021
Hier ist die Verteilung der Bevölkerung ersichtlich. Die Daten werden in den
folgenden Karten nur noch im Hintergrund mit dargestellt. Es sollte jedoch
Erwähnung finden, dass sich die kurdische Bevölkerung im Norden und Nord-Osten
konzentriert befindet, die östlichen und südöstlichen Gebiete lediglich gering
bevölkert sind.
Karte 2 – Lage am 27.11.2024
Stellt die Ausgangslage vor Beginn der Kampfhandlungen der HTS gegen die
Assad-Regierung dar. Die hier lila-getönte Einflusszone der Türkei setzt sich
dabei wie folgt zusammen:
- Direkt durch türkische Truppen besetzte kurdisch-syrische Gebiete die
direkt an die Türkei grenzen. Dies beinhaltet die 2015/16 erfolgte Besetzung
der nördlichen Teile des Gouvernement Idlib, die 2017 erfolgte Besetzung des
Gebiets um Afrin und die 2019 erfolgte Besetzung der nördlichen Teile der
Gouvernements Ar-Raqqah und Al-Hasakah.
- Eines weiteren Teils des Gouvernements Idlib, in welches sich
anti-Assad-Gruppen zurückzogen und in Verhandlungen mit der syrischen
Regierung als deren Zone (HTS) festgelegt wurde. Die Einhaltung des
brüchigen Friedens an der Grenze der beiden verfeindeten Gruppen wurde von
türkischen und russischen Truppen überwacht.
Intern ist dieses Gebiet unter HTS und türkischer Kontrolle.
Vereinzelte Exklaven von ISIS-Gruppen in den bevölkerungsarmen Gebieten
existieren weiter.
Die USA hat durch ihre Unterstützung der YPF im kurdisch
kontrollierten nord-östlichen Teil Syriens, dort laut eigenen Aussagen, zum
Schutz der Erdölförderanlagen, 3 Stützpunkte, als auch im Süden in der Region At
Tanf, die von Jordanien aus versorgt werden und dortige Rebellengruppen
unterstützen.
Erwähnt werden soll auch, dass angrenzend an das illegal israelisch besetzte
Gebiet Syriens seit 1967 eine UN-Pufferzone befindet, die militärische
Zusammenstöße zwischen syrischen und israelischen Truppen vermeiden soll. Die
UN-Truppen in dieser Zone wurden vor dem 27.11.2024 mehrfach Ziel israelische
Militärschläge, die auch zu Todesopfern unter den UN-Truppen führten.
Der Großteil des Landes befand sich unter Kontrolle der Assad-Regierung.
Karte 3 – Lage am 01.12.2024
Der vom Norden aus angreifenden HTS erzielt um Aleppo und in Richtung Hamah
erhebliche Gebietsgewinne, der Großteil Aleppos wird von ihr besetzt. Die
kurdische Enklave südöstlich von Afrin wird ebenfalls von HTS-Einheiten
angegriffen, die Kurden versuchen sich mit verbleibenden Kräften Assads nach
Aleppo abzusetzen.
Zeitgleich beginnen Luftangriffe der USA und Israels die
Positionen der Assad-Truppen anzugreifen und dienen somit als „Luftwaffe der
HTS“, wie dies schon mehrfach in anderen Staaten zur Unterstützung von
Aufständischen durchgeführt wurde.
Karte 4 – Lage am 05.12.2024
Die Stadt Aleppo ist von der HTS vollständig eingenommen und weitere Gebiete
im Süd-Osten der Stadt sind unter Kontrolle des HTS. Auch Teile der kurdischen
Gebiete werden im Osten besetzt.
Es ist ein relativ normaler zeitlicher Ablauf, die Gebietsgewinne der HTS
sind noch moderat, die Assad-Regierung gibt eine Umgruppierung ihrer
militärischen Einheiten bekannt.
Karte 5 – Lage am 07.12.2024
Die Einheiten der HTS stoßen auf Homs vor und erreichen die Vororte der
Stadt.
Interessanter ist jedoch, dass sowohl von den USA und Jordanien
kontrollierten Grenzgebieten im Süden aus erhebliche Militäraktionen erfolgten.
So haben aus der US-kontrollierte Zone Regimegegner den wichtigen Eisenbahnknotenpunkt von Al Qaryatayn erobert und somit, neben den
US-Luftangriffen auf die Assad-Truppen deren Bewegungsfreiheit erheblich
vermindert. In dieser Exklave existierten, wie auch um Daraa keine Einheiten des
HTS, es handelt sich vielmehr um noch nicht direkt benannte anti-Assad-Gruppen.
Ebenfalls ist ersichtlich, dass ISIS seine kontrollierten Gebiete erheblich
ausgeweitet hat und aktiv in die Kämpfe gegen die Regierungstruppen eingegriffen
hat.
Karte 6 – Lage am 08.12.2024
Die syrische Assad-Regierung ist gefallen, die Einheiten der Assad-Gegner
haben Damaskus eingenommen und Assad ist aus dem Land geflohen. Es ist fraglich,
ob die Besetzung von Damaskus durch den HTS oder die aus dem Süden vorstoßenden
Einheiten erfolgte, wobei letzteres aus der geografischen Nähe und dem schnellen
Vorstoß vom Vortag eher angenommen werden muss.
Zeitgleich hat israelisches Militär die UN-Pufferzone besetzt und richtet
sich dort auf einen längeren Verbleib ein.
Bleibt die Frage, was wird aus Syrien? Die bisherige Bilanz der Regime Change
Politik des Westens ist nicht gerade positiv – Somalia, Libyen, Afghanistan,
Irak … failed states!
Und es wird schon trefflich darüber diskutiert und spekuliert* – alle
Forderungen und Erwartungen der unterschiedlichen Interessengruppen wird die
neue Regierung nicht erfüllen können, dann werden auch die Gruppen wieder mehr
ihre eigenen Absichten verfolgen – und im schlimmsten Fall für alle
Interessierten wird es zu einem Bürgerkrieg kommen.
Die reale Geschichte dieses Machtwechsels wird erst in einigen
Monaten – vielleicht Jahren – geschrieben werden.
- Gab es Absprachen zwischen den USA, der Türkei und Israel für diese
Militäraktion?
- Wieso ist die syrische Armee, eine nominell fast 300.000 Mann stark,
nicht aktiv geworden?
- Wurde ein Deal mit Teilen der Armeeführung für die Machtübernahme
geschlossen?
* Der
Umsturz in Syrien, seine Hintergründe und möglichen Auswirkungen
Die geografischen Daten der Karten basieren auf Veröffentlichungen der
spanischen Zeitung „El Pais“.
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